- VdK Zeitung
- Dezember 2014/Januar 2015
Viele Jüngere können Sütterlin-Schrift nicht mehr lesen
Mit
Handschriften der Großeltern-Generation Familiengeschichte neu entdecken
– Engagierte Senioren helfen beim Übersetzen
Ob Poesiealbum, Lieblingsrezepte der Großmutter, Tagebücher und
Post-karten aus den Kriegsjahren oder Berichte von deutschen Auswanderern -
handschriftliche Texte der Großeltern-Generation sind oft noch in deutscher
Sütterlin-Schrift geschrieben. Jüngere Menschen können sie aber nicht mehr
lesen. Auf der Entdeckungstour in die eigene Familiengeschichte sind
Sütterlin-Übersetzer deshalb sehr gefragt. Oft sind es Senioren, die sich darum
kümmern, dass die Zeitdokumente nicht in Vergessenheit geraten.
Margarete Ritzkowsky aus Tutzing in Bayern holt ein ganz besonderes Buch aus
ihrem Regal und schlägt es auf. Die Zeilen auf den leicht vergilbten Seiten
stammen aus der Feder ihres Vaters, als er sich zwischen den beiden Weltkriegen
auf einer Reise rund um den Globus befand. Doch um genau zu erfahren, was er
erlebt und niedergeschrieben hat, musste seine Tochter den Bericht erst einmal
übersetzen. Nicht etwa aus einer Fremd- in die Muttersprache. Der Vater hat
deutsche Sätze so niedergeschrieben, wie er es in der Volksschule gelernt hat:
in Sütterlin.
Die deutsche Sütterlin-Schrift wurde 1911 vom Grafiker und Schriftgestalter
Ludwig Sütterlin entwickelt, um die damals vielen verschiedenen deutschen
Schriften zwischen Preußen und Bayern zu vereinheitlichen. Für alle, die bis
1941 die Schulbank drückten, wurde Sütterlin zur verpflichtenden
Standard-Schrift. Danach verschwand sie aus den Lehrplänen, und die lateinische
Ausgangsschrift nahm ihren Platz ein.
Margarete Ritzkowsky gehört zu denjenigen, die die Buchstaben mit den typischen
Schnörkeln und Zacken noch in der Schule kennengelernt haben. Die Erinnerungen
ihres Vaters zu bewahren, war ihr ein großes Anliegen. sie hat die Übersetzung
seines Reiseberichts zu einem Buch binden lassen. So können auch ihre Enkel
eines Tages darin schmökern und in die abenteuerlichen Erlebnisse des
Urgroßvaters eintauchen.
Auch Irmgard Simon hat ein Sütterlin-Erbstück übersetzt, um einer Verwandten
eine Freude zu machen. „Meine Großmutter hat ihre Lieblingsrezepte mit dem
Füllfederhalter in schöner Handschrift notiert”, erzählt die 79-jährige
Münchnerin. Die Sammlung, die von gedecktem Apfelkuchen über Silvesterpunsch
reicht, schlummerte lange in ihrer Schublade. Dann kam sie auf die Idee, die
Rezepte zum 50. Geburtstag ihrer Nichte zu schenken. Beim Lesen der
Sütterlin-Schrift bekam sie ein bisschen Hilfe von ihrer über 90-jährigen
Nachbarin. Trotzdem hat Irmgard Simon den Aufwand unterschätzt. Als das Jubiläum
immer näher rückte, wurde die Zeit fürs Übertragen knapp. „Ich musste im Sommer
drei Wochen intensiv daran arbeiten. Aber ich habe es geschafft”, erzählt sie
stolz.
Für jüngere Generationen ist Sütterlin zur Geheimschrift geworden. Wer wissen
möchte, was in den alten Schriftstücken aus dem Familienfundus steht, wendet
sich an Sütterlin-Kenner. Die Mitglieder der Sütterlinstube Hamburg e. V. etwa
wandeln seit rund 20 Jahren alte Schriften ehrenamtlich in lesbare Texte um.
Der gemeinnützige Verein bekommt Anfragen aus der ganzen Welt. Das 20-köpfige
Team besteht aus Übersetzern, die fast alle im Rentenalter sind. „Unser ältester
Mitarbeiter ist 88 Jahre alt”, erzählt Hermann Dust, der sich seit neun Jahren
für die Sütterlinstube engagiert und Vorstandsmitglied ist. Er berichtet, dass
die Leistungen des Vereins viel in Anspruch genommen werden, sich aber auch
Nachwuchssorgen abzeichnen.
Wer Sütterlin an einer der großen Volkshochschulen (VHS) lernen möchte, wird
selten fündig: Weder Frankfurt noch Köln oder Berlin haben die alte Handschrift
im Programm. Der Grund: Laut Deutschem Volkshochschul-Verband spielt Sütterlin
im Vergleich zu Sprachen eine untergeordnete Rolle.
Doch es gibt Ausnahmen. Karl Ernst aus Pößneck in Thüringen leitet erstmals ein
zehnstündiges Sütterlin-Seminar an der Volkshochschule des Saale-Orla-Kreises.
Seiner Erfahrung nach ist das Interesse an der Entdeckung der eigenen
Familiengeschichte ungebrochen. „Trotzdem habe ich nicht damit gerechnet, dass
der Kurs auf Anhieb voll ist.” Karl Ernst übt mit seinen 18 Schülern, die
zwischen 30 und 60 Jahre alt sind, fleißig die Buchstaben der Sütterlin-Schrift.
„Die Leseübungen klappen inzwischen gut”, sagt der 72-Jährige zufrieden. Der
Rentner hofft, dass das Interesse an der alten Handschrift nicht erlischt und
irgendwann wieder mehr junge Menschen Sütterlin beherrschen.
Mehr Infos unter
www.suetterlinstube-hamburg.de. Eine Anleitung zum Erlernen der
Sütterlinschrift bietet die Webseiten
www.suetterlinschrift.de.
- Elisabeth Antritter