- DAK MAGAZIN fit!
- 4/2007
Wer kann denn das noch lesen?
leben / porträt
Wer kann denn das noch lesen?
In vielen Familien gibt es noch alte handschriftliche Dokumente: Back- und
Kochrezepte der Oma.
Oder liebevolle Dichtungen im Poesiealbum der Tante. Oder Familienurkunden. Oder
alte Tagebuchaufzeichnungen. Wer aber kann sie noch lesen? Die Enkel jedenfalls
nicht; denn die Dokumente sind in deutscher Schrift verfasst. DAK-Mitglied Dr.
Peter Hohn hat einen Kreis Ruheständler um sich versammelt, die Texte in
lateinische Schrift übersetzen. Ein spannendes Stück Geschichte.
Entwicklung und Untergang der deutschen Schrift
Die Industrialisierung in Deutschland machte es erforderlich: 1911 erhielt
der Berliner Grafiker Ludwig Sütterlin (1865 – 1917) vom Land Preußen den
Auftrag, für die seit fast 500 Jahren nebeneinander bestehenden lateinische
und deutsche Schrift (Kurrentschrift) einheitliche Regeln und Schreibweisen
zu entwickeln. 1915 wurden die so entstandenen Schriftarten nebeneinander an
den preußischen Grund- und Volksschulen gelehrt. Die anderen Länder des
Reiches folgten zögernd.
Heute wird als „Sütterlinschrift” nur noch die von Sütterlin normierte
deutsche Schrift benannt. Ihr „Ende” trat während des zweiten Weltkriegs
ein. Insbesondere im öffentlichen Bereich wurde die Handschrift nämlich fast
völlig durch die Druckschrift verdrängt.
Eine Rolle spielte auch der Bormann- Erlass von 1941, nach dem die
Verwendung der deutschen Schrift verboten wurde. Teilweise wurde sie nach
dem Zweiten Weltkrieg noch bis in die 70er-Jahre als Schönschrift an
westdeutschen Volksschulen gelehrt.
Post aus aller Welt.
Dr. Peter Hohn und Heinz Demmin sichten den Posteingang: dicke,
gefütterte Umschläge aus dem US-Bundesstaat Washington und den
Nieder landen. Ihr Inhalt: pralle Notizbücher, Briefe und ein Kriegs-
tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg. Alles in deutscher Schrift.
Weil viele Menschen mehr über ihre Vorfahren wissen wollen, schicken
sie diese Dokumente nach Hamburg-Langenhorn in die
Sütterlinstube. Die Adresse ist längst kein Geheimtipp mehr. Aus
aller Welt kommt die Post: von Peru bis Australien, vielfach aus den
USA von den Nachkommen deutscher Einwanderer und jüdischer
Flüchtlinge. Einmal in der Woche treffen sich hier, im Altenzentrum
Ansgar, „schriftkundige” Ruheständler zum Übertragen der Texte. 1996
wurde die Sütterlinstube von Jörg Kraußlach, dem damaligen Leiter
des Altenzentrums gegründet. Eigentlich um Senioren zu beschäftigen:
Als bewegungs- und beschäftigungstherapeutisches Angebot, das
gleichzeitig Geist und Finger beweglich hält. Inzwischen hat sich
die Sache verselbstständigt. Rund 1oo Frauen und Männer aus dem
Norden wagen sich regelmäßig an die alten Dokumente heran. 20
gehören zum festen Kreis.
„Das können nur noch alte Menschen”
Die meisten von ihnen sind älter als 60. Viele sogar deutlich älter.
Heinz Demmin – seit 1932 DAK-Mitglied – ist mit 92 Jahren der
Älteste. Peter Hohn (Jahrgang 1937) nimmt alle Anfragen per Post und
E-Mail entgegen, verteilt die Aufträge an die Senioren, erhält die
Übertragung zurück und sorgt dafür, dass Korrektur gelesen wird.
Außerdem führt er die Korrespondenz – möglichst noch mit
historischer Auswertung. Lächelnd erzählt er uns: „Das alles hier
sind alte Menschen, die etwas können, was junge Menschen nicht
können – die deutsche Schrift lesen!” Gelernt haben sie die deutsche
Schrift in der Schule. Lesen können sie sie alle. Schreiben ist da
schon schwieriger. Auch das ist bemerkenswert: Viele übertragen die
Texte am PC. Heinz Demmin hat das noch im hohen Alter gelernt.
Außerdem arbeiten alle ehrenamtlich. Wer sich erkenntlich zeigen
will, kann spenden.
Jedes Dokument wird 1:1 übertragen. So wie es geschrieben ist. Das
verlangt viel Einfühlungsvermögen, wenn Ausdrücke nicht mehr
gebräuchlich sind. Auch mundartliche Texte sind nicht immer einfach.
Hinzu kommt, dass manche Dokumente im Laufe der Jahrzehnte verblasst
sind. Manchmal ist die Handschrift schwer lesbar. Und was sie alles
übertragen: private und geschäftliche Briefe, Geburts-, Heirats- und
Sterbeurkunden, Testamente, Verträge, Familien-, Kirchen-, Firmen-
und Schulchroniken, dazu persönliche Aufzeichnungen sowie Kriegs-,
Flucht- und Auswanderungsberichte. Kurzum: Durch diese Arbeit wird
vieles aus dem Alltag früherer Generationen bewahrt, was sonst der
Vergessenheit anheimfallen würde. Oder doch nicht ganz, weil
inzwischen in Volkshochkursen die deutsche Schrift gelehrt wird.
Kartons, voll mit alten Briefen
Einmal hatte Elizabeth Baars, die Urenkelin des Altonaer Landschaftsmalers
Louis Gurlitt Kartons mit rund 2.000 Briefen aus ihrer Familie mitgebracht. Alle
in deutscher Schrift. Durch die Übertragung entstand nachträglich eine genaue
Familienchronik. Und es entstand die Idee, eine Wanderausstellung von Bildern
des Malers einzurichten, auf der auch eine Reihe dieser Briefe mit den
entsprechenden Übertragungen der Sütterlinstube zu sehen sind. Ab 19. September
2007, dem 110. Todestag des Malers, ist diese Ausstellung in den Räumen der DAK
in Hamburg – zusammen mit einer Darstellung der Sütterlinstube. Übrigens auch
unter dem Titel „Wer kann denn das noch lesen?”
Wollen Sie in Ihrer Region auch eine „Übertragungsgruppe” gründen?
Dr. Peter Hohn unterstützt Sie gerne:
Sütterlinstube im Altenzentrum Ansgar, Reekamp 51, 22415 Hamburg oder
www.suetterlinstube.org
Übersetzte Briefe
Rund 2.000 Briefe des Malers Louis Gurlitt haben die Ruheständler
übertragen.
Dabei entstand die Idee, seine Landschaftsbilder aus Norddeutschland in
einer Wanderausstellung zu zeigen – natürlich zusammen mit einigen Briefen und
deren Übertragung. Der 1812 in Altona geborene Maler erhielt seine Ausbildung
u.a. an der Kopenhagener Kunstakademie. Auf der Suche nach Motiven, die ein
charakteristisches Bild der jeweiligen Landschaft vermitteln, bereiste er ganz
Europa.