Presseberichte

Hamburger Abendblatt

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  • 30. März 2017

Sütterlin - wie Hambuger historische Schätze heben

 
Der Verein Sütterlinstube bearbeitet jährlich rund 400 Anfragen aus aller Welt. Doch es fehlt an Nachwuchs für die spannende Arbeit (BETTINA MITTELBACHER).

HAMBURG:: Mit jedem neuen Wort Geschichte und Geschichten aufspüren und Geheimnisse entschlüsseln. Eintauchen in eine vergangene Zeit, in Schicksale, traurige, dramatische und anrührende. Da war das Dokument über das deutsche Verfahren gegen den Kriegsgefangenen Charles de Gaulle aus dem Jahr 1917, jener Mann, der später französischer Staatspräsident wurde.Da ist die weit verzweigte Familie im Zweiten Weltkrieg, die unter schwierigsten Bedingungen versucht, per Post den Kontakt zueinander zu halten und sich an einem sicheren Ort wiederzutreffen, Ausschnitte aus dem Leben, erzählt in wenigen Sätzen oder auf unzähligen Seiten - in Sütterlin. Jener Schrift, die im vergangenen Jahrhundert eine Zeit lang das Maß aller aufgezeichneten Dinge war und die heute nicht mehr viele Menschen beherrschen. Die Mitglieder der Sütterlinstube, einem Verein mit mittlerweile 20-jähriger Erfolgsgeschichte, können es dafür umso besser.
„Das ganze historische Szenario, das wir beim Entziffern von Texten erfahren, macht unsere Arbeit so interessant", sagt Erich Witte, Vorsitzender der Sütterlinstube. „Wenn man zum Beispiel Kriegstagebücher und Briefe aus beiden Weltkriegen liest." Seit 1996 setzen sich die Mitglieder des Vereins dafür ein, dass Kenntnis und Verständnis für die alte deutsche Schriftsprache lebendig bleiben. Dafür wurde der Verein am Mittwoch mit der Medaille für treue Arbeit im Dienste des deutschen Volkes in Bronze geehrt, die Kulturstaatsrätin Jana Schiedek überreichte. „Der Grundgedanke der Sütterlinstube basiert auf dem Austausch und dem von Wissen und Tradition. „Die ehrenamtlichen Mitglieder öffnen mit ihrer Arbeit der heutigen Generation einen wichtigen Blick in die Vergangenheit", sagte Schiedek, die die „großartige Arbeit des Vereins" lobte.
Was hat mein Großvater im Krieg erlebt? Was schrieb meine Urgroßmutter an ihre Tochter? Was erfahre ich in den Tagebüchern meiner Vorfahren? Immer wieder entdecken Menschen, die die Sütterlin- oder noch ältere Kurrentschrift nicht lesen können, alte Schriftstücke auf dem heimischen Dachboden oder im Keller und wollen wissen, was in ihnen verborgen ist. Mit ihren Anfragen können sie sich an die Sütterlin-Stube mit Sitz in Langenhorn wenden. Rund 400 Schriftstücke aus aller Welt werden dort pro Jahr entschlüsselt. „Und wir können uns vor Aufträgen kaum retten", sagt Witte. „Es ist unglaublich, was für ungehobene Schätze bei den Leuten auf den Dachböden schlummern. Manches ist so spannend wie ein Krimi."

 
Lösegeldforderungen aus dem Dreißigjährigen Krieg

Das älteste Dokument, das in der Sütterlinstube je übersetzt wurde, stammt von 1544. Und es gab noch andere Pretiosen wie etwa Lösegeldforderungen aus dem Dreißigjährigen Krieg und Briefe aus der Schlacht bei Waterloo, das Testament von Staatsminister Wilhelm von Humboldt oder Dokumente über den Großen Brand 1842 in Hamburg. Die Mitglieder erstellten die Transkription des Tagebuchs eines Mädchens aus den Jahren 1890 bis 1895, in dem es unter anderem von der Choleraepidemie erzählt. Einer ihrer Mitglieder hat Briefe eines deutschen Offiziers entschlüsselt, der im Ersten Weltkrieg in japanische Kriegsgefangenschaft geriet und dort Schlimmes durchleben musste. Für die Nachfahren ist es teilweise belastend, die Details zu erfahren. „Und auch für uns ist es mitunter bedrückend, was wir von einzelnen Schicksalen lesen", sagt Erich Witte. Vorstandsmitglied Rolf Lieberich erzählt, wie er die Lebenserinnerungen einer Jüdin übersetzte, die Mitte des 19. Jahrhunderts im heutigen Polen aufwuchs. „Ihre Niederschriften gaben ein vielschichtiges Bild über die jüdische Kultur und was von den Nazis später ausgelöscht wurde“.
Ein gewisses historisches Interesse ist bei der Arbeit mit der alten Schrift wichtig. Dazu kommt detektivischer Ehrgeiz, Sprachgefühl, Kombinationsgabe und Geduld. So werden den Dokumenten ihre Geheimnisse entrissen. Der Art der Aufträge sind keine Grenzen gesetzt. Neben Briefen gibt es beispielsweise Testamente, Kochbücher, Orts-Chroniken, Gedichte, Kriegs- und Reisetagebücher. Manches ist historisch spannend, manches banal, manches berührend, manches auch belastend.
Viele schicken zum Beispiel die Briefe ihrer jüdischen Ahnen, die in der Nazizeit ausgewandert sind. Und es kommen auch Anfragen von Menschen, die wissen wollen, was beispielsweise ihr Großvater früher so gemacht hat. „Und dann erfahren sie vielleicht aus Schreiben, die wir für sie entziffern, dass er ein überzeugter Nazi war. Dann sind viele erschrocken und hilflos", so Witte. Es gibt aber auch Schönes, wie die Liebesgeschichte von Heinrich und Helene aus dem 19. Jahrhundert. Heinrich wanderte nach Australien aus, um genug Geld für seine spätere Ehe zu verdienen. Acht Jahre schrieben sich die Verliebten, bis sie endlich heiraten konnten.
So spannend die Arbeit der Sütterlinstube ist: Was dem Verein fehlt, ist der Nachwuchs. Das jüngste der zurzeit 35 Mitglieder ist 48 Jahre alt, der älteste ist 90. Die meisten haben Sütterlin in der Schule gelernt. „Es wäre bedauerlich, wenn diese Arbeit irgendwann ein Ende findet, weil es niemanden mehr gibt, der diese alten Schriften lesen kann", sagt Witte. Über neue Mitglieder freut man sich. Und für Leute, die sich für Sütterlin interessieren und es lernen möchten, bietet der Verein auch Schulungen an, etwa durch Kurse an Volkshochschulen.
Die Anfragen der Hilfesuchenden kommen meist per Mail. Mal geht es um einzelne Seiten, es gibt aber auch Großaufträge, zum Beispiel Reisetagebücher von insgesamt gut 2000 Seiten, deren Entschlüsselung auch mal ein Jahr in Anspruch nehmen kann. Jedes Schreiben wird vertraulich behandelt. Der Service ist kostenfrei, aber der Verein bittet die jeweiligen Auftraggeber um Spenden. Als Anhaltspunkt dient die Arbeitszeit, aber auch, was derjenige zahlen kann. Manche geben 5 Euro, andere bis zu vierstellige Beträge. Das Geld, das der Verein einnimmt, wird gespendet, das meiste für Altenbetreuung sowie für Kunst und Kultur. In den vergangenen drei Jahren konnte der Verein rund 100.000 Euro für gemeinnützige Zwecke weitergeben.
Wer sich für eine Mitarbeit im Verein interessiert oder Informationen zu Sütterlin möchte, findet alles unter www.suetterlinstube-hamburg.de.

Senat

Kulturstaatssekretärin Jana Schiedek überreicht Erich Witte die Medaille


 
So war das damals

Die Sütterlinschrift wurde im Jahr 1911 im Auftrag des preußischen Kultur- und Schulministeriums von dem Grafiker Ludwig Sütterlin entwickelt und vier Jahre später in Preußen eingeführt. Schließlich ersetzte sie die deutsche Kurrentschrift. 1935 wurde sie in leicht abgewandelter Form als Deutsche Volksschrift Teil des Lehrplans. 1941 ließ Hitler die Sütterlinschrift verbieten. Nach 1945 wurde Sütterlin zusätzlich zur lateinischen Schrift an Schulen teilweise bis 1980 gelehrt. (bem)

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