Wir gedenken der Leben, die hätten gelebt werden können - in Deutschland und
auf der ganzen Welt.
Wir gedenken der Briefe, die nie geschrieben wurden.
Was hätte gestanden in den Briefen, mit denen Karl geantwortet hätte, hätte
er die Tagebucheinträge gekannt und lesen können?
So sind sie ein stummer Dialog, unvollendet geblieben, aufbewahrt als
Monolog. Kein Widerhall gibt es auf all die schönen und schlimmen Nachrichten,
die seine junge Frau ihrem Tagebuch anvertraut hat. Ihre Texte können wir lesen,
kann auch die Familie wieder lesen, seit Ihr engagierten Sütterliner sie ihr
zurückgeschenkt haben.
Und wir, die Übertragenden und die heute Hörenden, wir hören zu, ein bißchen
verschämt, weil das nie für unsere Ohren bestimmt war.
Und malen uns die Antworten aus. Jene Briefe, die nie geschrieben wurden.
Oder Briefe, die nicht ankamen. Briefe, die verloren gingen.
Ein anderes Bild kommt mir an diesem Tag vor Augen:
Ich sehe vor mir einen Berg von Schuhen. Hinter einer Glaswand liegen sie auf
einem Haufen, große und kleine in Auschwitz. Hinter jedem Paar verbirgt sich
eine Geschichte. Mein Blick bleibt an einem Paar Kinderschuhen hängen. Und ich
stelle mir ein kleines Mädchen vor, liebevoll zurechtgemacht von der Mutter für
die vermeintliche Reise. In der Hand hält es sich an seiner Puppe fest - die
musste einfach mit. Manches wird das kleine Mädchen noch der stillen Begleiterin
anvertraut haben. Worte, die wir nie mehr hören können. Erfahrungen, die nicht
aufbewahrt bleiben. Leben, die ausgelöscht wurden, generalstabsmäßig mit
deutscher Genauigkeit und Gründlichkeit.
Auch da: die vielen Briefe, die nie geschrieben wurden.
Ein drittes Bild:
Ich sehe vor mir das verbogene und zertrümmerte Turmkreuz der Dresdner
Frauenkirche. Unter den Trümmern haben sie es geborgen, und heute steht es in
der restaurierten Kirche. Und ich denke an den jungen Arzt, der die bedrückende
Angst im Luftschutzkeller in jener Februarnacht nicht mehr ausgehalten hat und
nach oben ging. Vielleicht konnte er in den Straßen Dresdens noch Menschen
helfen. Der Feuersturm nahm ihm den Atem.
Briefe, die nie geschrieben wurden.
Weil die, die sie hätten schreiben können, der grauenvollen Wirklichkeit des
Todes ins Auge gesehen hatten und dabei umgekommen sind.
Bedrängnis, Armut und Todesangst - davon ist auch die kleine Versammlung von
Christinnen und Christen in Smyrna zur Zeit des Sehers Johannes bedrückt.
In Smyrna, dem heutigen Izmir, blühte der Handel. Groß und prächtig waren die
Gebäude anzusehen, die Macht des römischen Imperiums mit Händen zu greifen. Der
Kult um den Führer des Imperiums, der Kaiserkult, blühte. Indem die
Kaiserstatuen angebetet wurden, kam man seinen römischen Bürgerpflichten nach.
Wer nicht staatskonform war, dessen Leben war von der Staatsmacht bedroht. So
auch die Christinnen und Christen der ersten Generation. Sie verweigerten den
Kaiserkult und gerieten in Gefahr.
Und auch hier ein Brief - einer mit Empfänger und Absender. Wir lesen ihn in
der Offenbarung des Johannes, im 2. Kapitel:
Dem Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe: Dies sagt der Erste und der
Letzte, der tot war und lebendig wurde.
Ich kenne deine Bedrängnis und Armut - du bist aber reich - und ich kenne
die Gotteslästerung derjenigen, die sich als Gottesfreunde ausgeben, ohne es
zu sein, sondern eine Versammlung des Satans sind.
Fürchte nichts, was du erleiden wirst! Siehe, der Teufel will einige von euch
ins Gefängnis werfen, damit ihr geprüft werdet. Ihr werdet zehn Tage lang
Bedrängnis haben.
Sei getreu bis an den Tod, so werde ich dir die Krone des Lebens geben! Wer
Ohren hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
Wer sich nicht unterkriegen lässt, wird vom zweiten Tod nicht angetastet.
In Zeiten besonders harter Bedrängnis, vor allen in Zeiten von
Gewaltherrschaft und Krieg sind offene Worte unmöglich. Geheimsprachen und
Bilder, die nur die verstehen, an die sie gerichtet sind, blühen in diesen
Zeiten. Man baut eine Stadt aus Flüstertönen. Wer Ohren hat, der höre. Die
Texte der Offenbarung des Johannes sind solche Texte. Sie entlarven das
Unrecht, decken auf, wo Leid, Schmerz und Geschrei das Leben prägen.
Aber sie reden nicht einer blinden Hoffnung und Vertröstung das Wort. Sie
reden nicht davon, dass für den Glaubenden all das nicht so beängstigend ist,
wenn er nur glaubt.
Die Texte der Offenbarung des Johannes sind Widerstandstexte gegen den
übermächtigen römischen Staat. Das Unrecht sehen und das Unrecht aufdecken,
bedeutet Widerstand zu leisten und es gerade nicht einfach als - womöglich
gottgegebenes Schicksal - hinzunehmen.
Gott selbst hat in Christus dem Grauen ins Gesicht gesehen. Christus, der
Erste und der Letzte, der tot war und lebendig wurde, kennt das Leid seiner
Gemeinde, er kennt die Bedrängnis und die Armut, die der Gemeinde in Smyrna von
außen, vom römischen Imperium, drohten.
Mit der Offenbarung des Johannes blicken wir - am Volkstrauertag ganz
besonders - in die Abgründe dessen, was Menschen Menschen antun. Aber wir werden
nicht allein gelassen beim Blick in den Abgrund.
Gott selbst steht neben uns und sieht die Abgründe, die uns bedrohen. So wie
er auch die Abgründe in unserem eigenen Leben sieht. Er sieht sie und hört
unsere Klagen und Gebete - auch die, die zu sprechen wir zu schwach sind.
Gott liest auch in den Briefen, die nie geschrieben worden sind.
Fürchte nichts, was du erleiden wirst! Gerade weil Gott unsere Bedrängnis und
Armut, weil er das Leid kennt, können wir den Zuspruch hören: Fürchte dich
nicht! Es wird immer neu Leid und Schmerz geben, auf der Welt und in deinem
eigenen Leben, aber du darfst gewiss sein, dass Gott deine Bedrängnis kennt. Der
Boden unter den Füßen wird dir auch dann nicht weggezogen, wenn du das Gefühl
hast, dass alles ins Wanken gekommen ist.
Das übermächtige Imperium Roms, dem keiner entkommen konnte mag Macht über
Tod und Leben haben, letzte Macht aber hat der, der Anfang und Ende ist, der
diese Welt erschaffen hat und sie erhält. Deswegen können wir ihm vertrauen,
treu sein bis an das Ende unserer Tage.
Sei treu bis zum Tod, und ich werde dir die Krone des Lebens geben. Treue,
auch Glaubenstreue, ist eine Sache, die auf Gegenseitigkeit beruht. Seit alters
her hat Gott mit den Menschen einen Bund geschlossen. Als nach der großen Flut
der Regenbogen am Himmel stand, hat Gott sein Versprechen gegeben, die Erde
nicht mehr zu zerstören. Er hat sich an uns Menschen gebunden und ist uns treu.
Und in Christus hat er einen neuen Bund uns angeboten. Seit dem Leben, Sterben
und Auferstehen dieses göttlichen Menschen und dieses menschlichen Gottes hat
Gott den Bund mit uns erneuert. Er hat sein Liebeswort zuerst gesagt und dieses
Wort heisst: Jesus. Jeshua, Gott hilft, Gott rettet heißt das. Und als unsere
Antwort darauf glauben wir, vertrauen wir - sind selbst treu im Glauben. Und
werden gekrönt von Gottes Nähe.
Volkstrauertag - wir gedenken der Briefe, die nie geschrieben wurden.
Briefe von Hoffnung, Briefe von Freude, Liebesbriefe, Briefe, die von einem
ganz normalen Alltag erzählen.
Wir trauern um die Menschen - Männer, Frauen und Kinder -, die durch die
Abgründe, die Menschen Menschen antun, aus dem Leben gerissen wurden - durch
Gewaltherrschaft und Fanatismus, durch die Kriege auf dieser Welt.
Ihr Leid und das Leid derjenigen, die sie zurücklassen und die vergeblich auf
ihre Briefe warten, sei uns allen Mahnung, kräftiger, mutiger und brennender für
den Frieden einzustehen. Hier bei uns im Kleinen und in der Verantwortung für
die Welt, die nicht bleiben soll, wie sie ist. Die doch einmal wieder so werden
soll, wie Gott sie sich wünscht.
Wenn wir als Christinnen und Christen trauern, dann geschieht das nicht ohne
Hoffnung. Gott sieht das Leid, er sieht auch die Schuld - und ruft uns dennoch
zu: Fürchtet euch nicht! Er verheißt uns einen neuen Himmel und eine neue Erde,
in denen Gerechtigkeit wohnt. Und wo eine Zeit kommt, in der die Menschen nicht
mehr lernen werden, gegeneinander Krieg zu führen. Und Gott selber wird bei den
Menschen wohnen, und diese Wohngemeinschaft wird von Liebe zusammengehalten, von
einer Liebe, die alles Trennende überwindet, verzeiht, überliebt.
Wo der Geist Gottes uns trägt und zu neuem Leben inspiriert, da sind wir
versöhnt - miteinander und mit Gott. Und weil uns das zugesagt ist, dürfen und
können wir Frieden und Versöhnung gestalten und erhoffen.
Wie ein Fest nach langer Trauer.
Amen.
Orgelimprovisation
Abkündigungen
Fürbittengebet – Vater unser
Du unser Gott, du bist ein Gott der Weisheit.
Schau auf unser Unvermögen.
Erbarme dich der Politiker,
die Verantwortung für das Geschick von Millionen tragen.
Komm mit deiner Weisheit.
Du unser Gott, du bist ein Gott des Friedens.
Schau auf unsere Friedlosigkeit.
Erbarme dich der Menschen,
deren Leben von Krieg und Gewalt gezeichnet ist im Nahen Osten, in Syrien
Komm mit deinem Frieden.
Du unser Gott, du bist ein Gott der Gerechtigkeit.
Schau auf den Hunger in aller Welt.
Erbarme dich der Obdachlosen und Flüchtlinge,
der Armen und Verschuldeten.
Komm mit deiner Gerechtigkeit.
Du unser Gott, du bist ein Gott der Wahrheit.
Schau auf unsere Lügen.
Erbarme dich aller,
die unter den Diktaturen dieser Welt leiden.
Erbarme dich der Opfer von Korruption und Gier.
Komm mit deiner Wahrheit.
Du unser Gott, du bist ein Gott der Versöhnung.
Schau auf unsere Feindseligkeit.
Erbarme dich aller,
die miteinander im Streit liegen.
Erbarme dich aller,
die verbittert sind.
Komm mit deiner Versöhnung.
Du unser Gott, du bist ein Gott der Liebe.
Schau auf unsere Lieblosigkeit.
Erbarme dich aller,
die uns lieb sind und die zu unserem Leben gehören.
Komm mit deiner Liebe.
Du unser Gott, du bist ein Gott der Hoffnung.
Schau auf unsere Mutlosigkeit.
Erbarme dich aller,
die an den Verhältnissen verzweifeln.
Komm mit deiner Hoffnung.
Du unser Gott, du bist ein Gott des Lebens.
Schau auf unsere Verstorbenen.
Erbarme dich aller,
die trauern.
Komm mit deinem Leben.
Du unser Gott, du bist der Herr deiner Kirche.
Schau auf deine Gläubigen.
Erbarme dich aller,
die dir vertrauen.
Komm mit deiner Gegenwart.
Komm mit deinem Geist.
Komm Herr Jesus Christus.
Und nun beten wir gemeinsam, wie Jesus selbst uns gelehrt hat:
Vater unser im Himmel,
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib und heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein sind das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Lied: Es wird sein in den letzten Tagen EG 426
Segen
Orgelnachspiel