Presseberichte

Wochenblatt

  • Wochenblatt
  • Dienstag, 3. November 2009 Nr.45

SÜTTERLINSTUBE:
Schriftgelehrte im Scheinwerferlicht

Wochenblatt

Geschichte in Briefen und Tagebüchern: Hermann Dust, Dr. Peter Hohn,
Karin Kaufhold und Ulrich Jäckstein übersetzen „Sütterlin”.

Langenhorn (cw) – Die Leute vom Rundfunk waren schon ein paar Mal da. Die Presse sowieso. Jetzt kam das Fernsehen ins Langenhorner Altenzentrum Ansgar – noch dazu in Gestalt des quirligen Privatsenders RTL, der nach eigenem Bekunden vor allem die „werberelevante Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen” im Blick hat. Wenn sich also ein RTL-Team an einen Ort verirrt, dessen Zielpublikum um ein Vielfaches älter ist als das eigene, dann muss es dort schon etwas Besonderes geben. Die Sütterlinstube ist so etwas Besonderes: Senioren, die säckeweise Luftpost aus aller Welt bekommen und deren Sachverstand von Geschichtsprofessoren und Ahnenforschern gleichermaßen geschätzt wird – das ist schon was. Der Beginn des Projekts war wenig spektakulär. Vor 17 Jahren von einem ortansässigen Pastor vor allem mit dem Hintergedanken gegründet, den Senioren am Reekamp eine interessante Nachmittagsbeschäftigung bieten zu können, hat sich die Idee der Sütterlinstube jedoch längst verselbständigt. Zuerst über die Grenzen Langenhorns hinaus, dann landesweit und inzwischen auf der ganzen Welt findet die Arbeit der schriftgelehrten Ruheständler Beachtung und Anerkennung, ihr Wissen ist bei Nachgeborenen heiß begehrt. Denn wer die eigene Familiengeschichte nachvollziehen und etwa die Einträge in Großvaters Tagebücher aus dem ersten Weltkrieg verstehen will, der ist auf den Sachverstand aus Langenhorn angewiesen.

Denn nur wenige Menschen können die alte deutsche Kurrentschrift und die sogenannte Sütterlinschrift, die im Jahr 1911 im Auftrag des preußischen Kultur- und Schulministeriums vom Berliner Grafiker Ludwig Sütterlin als Vereinfachung entwickelt wurde, überhaupt noch lesen. Mit Beginn des Schuljahres 1941/42 durfte an den Schulen nur noch die „lateinische Normalschrift” gelehrt werden. Der Nazierlass hatte weitreichende Folgen – bis in die Gegenwart, denn die alten Schriften sind heute praktisch ausgestorben. Für die Mitglieder der Sütterlinstube sind sie hingegen vertraut. Durchweg über 70, haben sie meist in der Grundschule noch Sütterlin gelernt, von Deutschlehrern kurz vor der Pension oder als Schönschreib-Strafarbeiten, aber auch von der Mutter, die ihre Einkaufszettel in der alten Laufschrift abfasste.

Seit diesem Jahr ist die Sütterlinstube ein eingetragener Verein, der sich mit einem viersprachigen Auftritt (deutsch, englisch, französisch und spanisch) im Internet präsentiert und dessen Mitglieder nicht mehr nur aus dem Altenzentrum, sondern aus ganz Hamburg und dem Umland kommen. „Das ist Seelsorgerarbeit”, sagt der Vereinsvorsitzende Peter Hohn. „Denn in aller Regel wissen die Leute nicht, was da wirklich steht”. Und oft enthält der Nachlass der Vorfahren nicht nur Schönes – Feldpost oder Briefe aus Konzentrationslagern verlangt auch den Übersetzern eignes ab. „Aber wir bekommen so auch geschichtliches Hintergrundwissen, das wir sonst nicht hätten”, erklärt Hohn den durchaus wissenschaftlichen Beitrag seines Vereins. „Geschichte von unten” nennt er das. Auch Historiker, Geschichtsstudenten und Ahnenforscher, die Briefe und Bücher im Original verstehen wollen, sind auf die schriftkundigen Hamburger angewiesen. Anfragen kommen aus aller Welt – von Nachfahren deutscher Auswanderer aus den Vereinigten Staaten, Australien und Südamerika vor allem. Aber auch mit israelischen Forschern arbeitet die Sütterlinstube eng zusammen und übersetzt die Nachlässe jüdischer Flüchtlinge.

zurückblättern